So einfach erobert Ihr die virtuelle Realität

Veröffentlicht von am 22 Jan 2016

Für einen Ausflug in die virtuelle Realität braucht Ihr keine teure Oculus Rift. Schon ein Google-Cardboard mit Papprahmen samt Smartphone und VR-App lässt Euch leicht in neue Welten eintauchen. Damit erreicht auch das Storytelling eine neue Ebene, wie die New York Times erfolgreich zeigt. Einen Einblick davon gibt aktuell eine Pop-Up VR Cinema Tour.

Sidra sitzt auf ihrem Bett und weint. So gerne würde ich sie trösten, denn sie hockt direkt vor mir, nur eine Armlänge von mir entfernt. Aber meine Hand greift ins Leere: Das syrische Flüchtlingsmädchen sitzt mir nur virtuell gegenüber. Durch eine spezielle Datenbrille – in diesem Fall eine Samsung Gear – erlebe ich den Raum, in dem Sidra ist, als meinen eigenen. Dabei befinde ich mich eigentlich gemeinsam mit rund 20 anderen so merkwürdig bebrillten Zuschauern in einem schicken kleinen Vortragssaal der Wayra Akademie in der teuren Münchner Innenstadt und fläze mich in meinen Designer-Drehstuhl. Größer könnten die Gegensätze kaum sein.

 

VR-pop-up-cinema2-1250x781Foto: Samhoud Media

 

Für einen Abend hat das holländische Unternehmen Samhoud Media hier in der Münchner Innenstadt ein kleines „Pop Up VR Cinema“ eröffnet. „Wir wollen diese spannende Technologie auf diese Weise bekannter machen für Konsumenten“, erklärt mir CEO und Gründer Jip Samhoud. Er produziert VR-Material, vor allem für Geschäftskunden. Während im B2B-Segment das Thema VR in der Simulation schon eine größere Rolle spielt, ist vielen Endverbrauchern diese Technik noch völlig unbekannt.

 

Heute Abend sieht das Publikum Material, das beispielsweise auch in der App „Vrse“ (Hinweis: inzwischen heißt die App „Within“) zu finden ist und meist auch vom gleichnamigen Studio produziert wurde. Die einzelnen Filme sind jeweils rund fünf Minuten lang, die gesamte Vorstellung dauert kaum länger als eine halbe Stunde. „Mehr kann das Gehirn nicht verarbeiten“, sagt Jip. „Aber das ist alles eine Frage der Gewöhnung“.

 

Eine Mitarbeiterin stellt mir die Brille ein und setzt mir die Kopfhörer auf, dann startet auch schon der erste 3D-Clip „Take Flight“. Ich habe das Gefühl, mit einem Fahrstuhl direkt in Richtung Himmel zu sausen, vorbei an der nächtlichen Skyline. Über den Wolken fliegen mir Menschen entgegen, die ich mir so vielleicht auch als Engel vorstellen könnte. Die Wesen fliegen über mir, kommen von der Seite – der 360-Grad-Eindruck und die 3D-Optik fangen mich komplett ein. Im Magen macht sich dann sogar das bekannte Aufzug-Kribbeln bemerkbar, als es wieder nach unten geht. Erleichtert stelle ich fest, dass es nur dieses Kribbeln ist, das meinen Bauch beschäftigt, denn ich gehöre zu der Spezies, der bei VR-Demos schnell übel wird. „Motion Sickness“ nennen das die Fachleute. (Übrigens scheint diese Übelkeit überwiegend Frauen zu betreffen, so dass es bereits 2014 die Frage gab: Ist die Oculus Rift sexistisch?)

 

FotoBrilleStuhlFoto: Simone Fasse

 

Diese Begleiterscheinung könnte durchaus zum Hemmschuh für eine neue Technologie werden, die im Konsumer-Bereich völlig neue Perspektiven für verschiedenste Branchen eröffnet. Deshalb, so versichert jedenfalls Jip Samhoud, achten die VR-Regisseure inzwischen darauf, die Kameraführung möglichst ruhig zu gestalten. Neue Dienste sind etwa im Tourismus, im Gaming oder für den Journalismus denkbar, aber auch im Broadcasting oder in der Unternehmenskommunikation.

 

In der Dokumentation „Clouds over Sidra“, das den Alltag der 12-jährigen Sidra in einem jordanischen Flüchtlingscamp zeigt, geht es auch gar nicht um spektakuläre Kamerafahrten. Vielmehr wird hier das Storytelling auf eine völlig neue Ebene gehoben. Der Zuschauer verliert seine Distanz und hat das Gefühl, ein Teil der Umgebung, der jeweiligen Gruppe von Menschen zu sein. Dieser Eindruck ist umso intensiver, wenn man auch noch direkten Augenkontakt zu haben scheint. Der Bäcker sagt freundlich Hallo, die Jungs in der Computerecke ebenfalls. Die New York Times hat das Potenzial von VR-Geschichten als eines der ersten Medien erkannt und erntete mit „Clouds over Sidra“ bereits weltweit Anerkennung.

 

In Zusammenarbeit von NY Times Magazine und Vrse entstand auch der Film „Walking New York“, der gespickt ist mit überraschenden Perspektiven auf Big Apple. Hier geht es um ein Projekt des französischen Künstlers JR, der Bilder von Immigranten gigantisch groß auf öffentliche Plätze in Manhattan klebt. Konkret zeigt dieses Video das Making Of des Covers für das New York Times Magazine, das den jungen Kellner Elmar Aliyev aus Aserbaidschan zeigt. Die Menschen laufen über das Riesenposter, und trotzdem ist der sonst so unauffällige Mann endlich einmal sichtbar – stellvertretend für die so zahlreichen Einwanderer, die in New York leben. Dieses Video hat mich sehr beeindruckt, schaut es Euch unbedingt an. Noch sind solche VR-Inhalte etwas rar gesät, das dürfte sich aber mit der zunehmenden Verbreitung ändern.

 

FotoCardboardmio1Foto: Birgit Köbl

 

Eine teure Datenbrille wie die Oculus Rift, die im ersten Quartal 2016 für ca. 699 Euro zu haben sein soll, müsst Ihr Euch für den Ausflug in die virtuelle Welt übrigens nicht zulegen. Ein Google Cardboard aus Pappe, das uns der großartige VR-Experte Arnold Pötsch netterweise bereits im vergangenen Jahr vorgeführt hat, reicht dafür völlig aus. Vielleicht habt Ihr noch eines von der letzten dmexco, wo der Papprahmen mit den besonderen Linsen als Giveaway verteilt wurde. Auch mein PR-Kunde Valtech hat Weihnachten eine sehr gelungene Eigenkreation an seine Kunden und Mitarbeiter verschenkt. Also, einfach App laden, Rahmen zusammenstecken, Smartphone rein und los geht´s. Nur ein paar Sekunden, und ihr flaniert durch das Schloss Versailles, macht gemeinsam mit U2 Musik oder lernt wie ich Sidra und ihre Freundinnen kennen. Und wenn Ihr in Amsterdam seid, könnt Ihr auch im VR-Cinema von Samhoud Platz nehmen.

 

 

 

 

Hinterlasse eine Antwort